von Johanna Palocsay

Früh am nächsten Morgen steht Lhamo auf, um nach dem Wetter zu sehen. „Na, sieht ja gut aus. Ob ich vielleicht herausfinden kann, was wirklich los ist?“, sagt er leise vor sich hin.

„Guten Morgen, Lhamo. Gut geschlafen?“ „Oh Migyur, guten Morgen. Hab dich gar nicht kommen hören. “Das Frühstück ist fertig!“, ruft Tenzin. „Na dann wollen wir uns mal stärken für den Tag. Wer weiß, was wir heute so alles erleben?“, sagt Lhamo zu seinem Bruder und folgt ihm ins Zelt.

„Guten Morgen, Papa. Ich freue mich schon auf den Tag heute. Bin schon neugierig.“ Migyur legt seinem Sohn die Hand auf die Schulter und sagt: „Tut mir leid, mein Junge. Aber wir müssen diese Tour auf einen anderen Tag verschieben. Es ist im Moment zu gefährlich.“ Traurig schaut Lobsang seinen Vater an und antwortet: „Warum denn zu gefährlich? Das kann ich nicht verstehen. Ich habe mich schon so darauf gefreut.“ „Ich weiß. Aber wir werden das sobald wie möglich machen. Versprochen.“ „Ja, Papa, das machen wir!“

Lobsang ist traurig, dass er heute nicht mit Papa zum Pass hinübergehen kann. Tenzin tröstet ihn und sagt: „Schau, in ein oder zwei Tagen vielleicht könnt ihr die Tour zum Pass machen. „Willst du mir dafür heute ein wenig bei der Arbeit helfen?“ „Oh ja, das mache ich.“

In der Zwischenzeit macht sich Lhamo bereit zu seinem Erkundungsritt. „Sei vorsichtig und pass auf, dass dir nichts passiert.“ Migyur hat Angst um seinen Bruder. Er war schon immer ein Draufgänger und hat den Eltern oft schlaflose Nächte bereitet.  „Schon gut, mein kleiner Bruder. Ich kann schon auf mich aufpassen. Auf Wiedersehen!“, ruft Lhamo während er schon davonreitet. „Auf Wiedersehen! Komm wieder gut zurück!“, rufen ihm alle noch nach.

Migyur hat heute genug Zeit, um die notwendigen Reparaturen am Zelt vorzunehmen. Viel zulange hat er sich damit schon Zeit gelassen. Noch bevor der nächste Regen kommt, sollte es erledigt sein. Die Arbeit lenkt ihn jetzt ein wenig von seinen Gedanken ab. Tenzin macht Butter aus der frischen Yak-Milch und Lobsang hütet die Yaks. Es ist friedlich und still.

„Ich glaube, wir sollten bald wieder weiterziehen. Die Tiere brauchen wieder frisches, saftiges Gras“, sagt Tenzin. „Ja, ich weiß, aber zuerst müssen wir die Rückkehr von Lhamo abwarten. Wir wollen ja vorher noch zum Pass hinüber, wenn es möglich ist.

“Migyur hat gerade ein kleines Loch in der Zeltwand geflickt, als es auf einmal zu regnen beginnt. „Na, das habe ich ja noch rechtzeitig geschafft“, murmelt er. „Lobsang komm, bevor du ganz nass wirst!“ Im Zelt ist es jetzt gemütlich. Es gibt frischen Buttertee und etwas zu essen.

„Sag, Lobsang, was willst du einmal machen, wenn du erwachsen bist?“ „Papa, was für eine Frage. Ich will auch Nomade sein, genau wie du!“ „Ich fürchte, das wird für deine Generation nicht mehr so leicht sein. Die chinesische Regierung wird uns alle dazu zwingen, in kleinen Siedlungen zu leben. Ohne unsere Herden. Und die Freiheit, wie hier in den unendlichen Graslandschaften, wird es dann auch nicht mehr geben.“, erklärt Migyur seinem Sohn. „Aber ich werde Nomade. Ich will nichts anderes machen.“ „Ja, es war auch immer mein Wunsch. Nur wir leben heute nicht mehr in einem freien Land, wo wir selbst entscheiden können“, sagt Migyur.

Tenzin hört den beiden eine Zeit lang zu und sagt dann: „Genauso stur wie sein Vater. Wo das noch hinführen wird?“ „Ich bin doch nicht stur. Wie kommst du nur auf so eine Idee?“ „Ja, ja“, sagt sie und beginnt das Abendessen vorzubereiten.

Es hat aufgehört zu regnen. Lobsang und sein Vater gehen wieder hinaus. Viel Arbeit wartet noch auf Migyur. Doch seine Gedanken sind bei seinem Bruder. An diesem Abend liegt er noch lange wach und denkt nach, bis ihm dann doch vor Müdigkeit die Augen zufallen.

Ein lautes Wiehern weckt Migyur am nächsten Morgen auf. Rasch springt er aus dem Bett und läuft hinaus vor das Zelt. „Lhamo, guten Morgen. Ist alles gut gegangen?“ „Ja, nur musste ich ständig auf der Hut sein. Überall in der Nähe der Grenze waren viele Soldaten. Niemand konnte mir sagen, warum sie da so genau kontrollierten. Aber spät am Abend sind sie dann wieder abgerückt“, antwortet Lhamo.

„Das heißt, wir können es heute probieren hinüber zu gehen?“, antwortet Migyur und schaut seinen Bruder fragend an. „Ich denke schon, aber sei vorsichtig. Ich würde Lobsang heute noch nicht mitnehmen, es ist noch etwas zu unsicher.“ „Ich glaube auch, dass es in dieser Situation besser ist, wenn er bei Tenzin bleibt.“ „Komm, lass uns hineingehen. Ich glaube die anderen sind auch schon wach“, sagt Migyur.

Als Lobsang die beiden kommen sieht, geht er ihnen freudig entgegen. „Guten Morgen, Papa. Und, gehen wir heute zum Pass hinüber?“ Migyur setzt sich nieder und blickt seinen Sohn ernst an. Dann antwortet er ihm: „Ja, ich gehe heute hinüber zum Pass. Aber ich werde alleine gehen. Es ist im Moment zu gefährlich für dich.“ „Warum? Ich bin schon groß und stark.“ „Ich weiß. Nur, du bist grade mal zwölf Jahre alt. Ich will nicht riskieren, dass dir etwas zustößt. Kannst du das verstehen?“ „Aber dann ist es ja für dich auch gefährlich, wenn du hinüber gehst“, antwortet Lobsang.

Migyur muss einsehen, dass der Bengel einfach recht hat. Auch er begibt sich in Gefahr. Vielleicht kann er Lhamo bitten, ihn zu begleiten, damit alle beruhigt sein können. Scheinbar kann sein Bruder Gedanken lesen und sagt: „Wenn du willst, kann ich dich begleiten.“ „Danke, Lhamo. Ich nehme dein Angebot an. Gehen wir gleich nach dem Frühstück? “ „Ja, einverstanden.“ Tenzin ist froh darüber, dass die beiden Männer alleine gehen. Trotzdem ist sie besorgt und hofft, dass alles gut geht.

Nachdem alle ausgiebig gegessen haben, machen sich Migyur und Lhamo auf den Weg. „Auf Wiedersehen. Bis bald!“ „Papa, bringst du mir etwas Schönes mit?“ „Ja, das mache ich. Und du pass gut auf Mama auf, während ich nicht da bin.“ „Okay. Dann bis bald.“ „Auf Wiedersehen. Passt gut auf euch auf und kommt gesund wieder“, sagt Tenzin und winkt den beiden. Sie geht mit Lobsang wieder hinein und macht sauber im Zelt. Dann geht sie zu dem kleinen Altar – mit einem Bild seiner Heiligkeit – und betet um eine gesunde Rückkehr für Migyur und seinen Bruder.

– Ende –