von Johanna Palocsay

Migyur ist müde. Es war ein langer und anstrengender Tag. Lange war er heute mit seiner Yak-Herde unterwegs. Jetzt freut er sich auf einen geruhsamen Abend mit seiner Familie.

„Guten Abend, Tenzin“, ruft er seiner Frau schon von weitem zu. „Tashi Delek! Alles okay bei dir und der Herde?“, antwortet sie und geht ihm entgegen. Das Abendessen ist schon vorbereitet und der Duft von Buttertee und Räucherstäbchen liegt in der Luft.

„Es ist so friedlich hier. Nichts stört den Frieden in den unendlich weiten Graslandschaften. Wir haben unsere Yaks, die uns alles geben, was wir zum Leben brauchen. Und doch weiß ich, dass ich irgendwann einmal das Nomadenleben nicht mehr leben darf. Aber aufgeben werde ich niemals, egal was passiert. Ich liebe das Leben in Freiheit und mit der Natur im Einklang zu sein.“, gehen ihm die Gedanken durch den Kopf. Da fällt ihm ein, er hat noch nicht auf die Frage seiner Frau geantwortet. „Ja, alles gut. Morgen muss ich früh raus. Ich will rüber zum Pass einige Geschäfte machen. Hoffentlich hält das Wetter. Und ich möchte gerne Lobsang mitnehmen, damit er lernt, wie man handelt.“

„Du bist in der letzten Zeit so nachdenklich und mit deinen Gedanken weit weg“, sagt Tenzin, während sie ihren Mann fragend ansieht. „Ja, ich weiß. Manchmal habe ich Angst vor der Zukunft und was aus Lobsang werden soll. Du weißt doch, sie werden uns alle eines Tages zwingen in Häusern zu leben und einer geregelten Arbeit nachzugehen. Solange wir unter der chinesischen Diktatur leben müssen, wird sich daran nichts ändern.“ Auch Tenzin weiß es nur zu gut. Nur sie besitzt scheinbar die Gnade, dies so gut wie möglich zu verdrängen.

„Guten Abend, Papa“, hört er seinen Sohn rufen, der mit dem Hund herumtollt. „Lobsang komm, das Essen ist fertig“, ruft die Mutter. Schnell kommt der Junge ins Zelt gelaufen und setzt sich auf seinen Platz. „Papa, hattest du einen schönen Tag?“ „Ja. Und wenn du möchtest, kannst du morgen mit mir zum Pass gehen und mir helfen unsere Waren zu verkaufen. Einverstanden?“ „Oh ja. Das habe ich mir schon lange gewünscht. Hm, das Essen duftet. Hab schon großen Hunger!“ „Guten Appetit, meine Lieben. Lasst es euch schmecken“, sagt Tenzin und freut sich, dass es ihnen gut geht.

Vor dem Zelt grasen die Yaks. Der Hund hat es sich vor dem Eingang bequem gemacht und bewacht die Herde. Alle sind satt und zufrieden. Migyur nimmt seine Gebetsmühle. Während er sie dreht und „om ma ni pedme hum“ murmelt, macht er sich Gedanken über die Zukunft. Wie soll es weiter gehen mit ihm und seiner Familie, wenn die chinesische Regierung bald alle Nomaden sesshaft machen wird. Wovon sollen sie dann leben? Er hat doch nichts anderes gelernt, als mit der Herde von Weide zu Weide zu ziehen. Doch heute ist der Abend viel zu schön, um sich weiter Gedanken zu machen. Morgen ist auch noch ein Tag.

„Ich werde noch hinausgehen und kleine Reparaturen machen“, ruft er Tenzin zu, die gerade dabei ist das Geschirr zu spülen. „Ja, ist gut. Ich komme dann auch. Ich muss noch den Dung zum Trocknen einsammeln“, antwortet sie.

Lobsang hat sich währenddessen heimlich aus dem Zelt geschlichen und spielt mit dem Hund. Ausgelassen toben die beiden herum und vergessen dabei ganz die Zeit. „Lobsang! Es ist Zeit schlafen zu gehen!“ ruft Migyur. „Oh schade. Jetzt ist es gerade so schön! Muss das wirklich schon sein?“ „Ja, mein Lieber. Du weißt, morgen müssen wir früh aufstehen.“ „Okay. Gute Nacht, Papa. Bis morgen früh.“ Schnell verschwindet Lobsang im Zelt und kuschelt sich unter seine warme Wolldecke. Nachts wird es kalt hier, auf einer Höhe von 4.400 m. Es ist ein hartes und entbehrungsreiches Leben, und doch lieben sie es. Migyur und seine Familie sind zufrieden, so wie es ist. Ein Stück Freiheit, das es vielleicht bald nicht mehr so geben wird.

Migyur ist gerade damit beschäftigt die Waren für den Verkauf vorzubereiten, da hört er auf einmal ein seltsames Geräusch. „Tenzin, horch! Was ist das?“ „Ich kann es nicht genau erkennen. Aber jedenfalls eine riesige Staubwolke, die da auf uns zukommt.“

Langsam nähert sich ein Reiter. Als er näher kommt erkennt Migyur seinen Bruder. „Was ist los, Lhamo? Wo kommst du her?“ Noch ganz außer Atem springt Lhamo vom Pferd und sagt: „Wann willst du wieder zum Pass hinaufgehen?“ „Morgen früh“, antwortet Migyur. „Das wird nicht gehen. Das chinesische Militär macht Kontrollen an der Grenze“, antwortet sein Bruder. „Aber ich will doch nicht über die Grenze gehen, sondern nur in dem kleinen Ort davor meine Waren verkaufen. Sonst gibt es hier weit und breit kein Dorf, oder eine kleine Siedlung.“

Nervös geht Migyur auf und ab. Er hat kein gutes Gefühl. Seit der Machtübernahme Chinas kommt es immer wieder zu illegalen Verhaftungen (auf Grund von falschen Anschuldigungen) und willkürlichen, brutalen Übergriffen auf Tibeter.

„Es macht keinen Sinn es trotzdem zu versuchen. Du musst abwarten“, sagt Tenzin. „Und wo bitte soll ich dann unsere Waren verkaufen? Kann mir das wer verraten?“ „Komm lass uns mal in Ruhe nachdenken. Es wird sich schon eine Lösung finden“, antwortet Lhamo und versucht seinen Bruder zu beruhigen. Er kann ihn ja verstehen. Nur kennt er Migyur gut genug, um zu wissen, dass er immer mit dem Kopf durch die Wand will. Jetzt macht das aber gar keinen Sinn. Damit bringt er nur seine Familie in Gefahr.

„Ich habe doch Lobsang versprochen ihn morgen mitzunehmen, damit er lernen kann, wie man seine Waren verkauft und gute Preise verhandelt“, sagt Migyur traurig. „Komm, Kopf hoch. Warte noch ein paar Tage. Dann ist die Gefahr vielleicht wieder vorbei. Bis dahin lass uns das Leben hier genießen“, antwortet Lhamo und klopft seinem Bruder auf die Schulter.

Tenzin hat in der Zwischenzeit frischen Buttertee gemacht. Es ist schon spät geworden. Die drei sitzen vor dem Zelt und trinken Buttertee. Jeder ist mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Bis Lhamo das Schweigen unterbricht: „Du Migyur, wenn du einverstanden bist, werde ich morgen noch mal zurückreiten und mir ein Bild von der Lage machen.“ „Ja, das wäre eine gute Idee. Aber es ist auch sehr gefährlich“, antwortet Migyur und es ist ihm nicht wohl bei dem Gedanken, dass sich sein Bruder in Gefahr begibt. „Lasst uns schlafen gehen. Es war ein langer Tag“, sagt Tenzin, geht ins Zelt und wünscht den beiden eine gute Nacht. „Gute Nacht! Komm Lhamo, Tenzin hat Recht. Ich bin auch schon müde. “Nur Migyur kann lange noch nicht einschlafen. Zu viele Gedanken gehen ihm durch den Kopf. Aber schließlich fallen auch ihm vor Müdigkeit die Augen zu, und er schläft ein.

Fortsetzung folgt…